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Staatsanwalt J. H. von Kirchmann (1802-1884)

Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1847)


vorgelegt von

Carola Storm-Knirsch, Dipl.-Psych., Wilhelmshöher Str. 24, 1000 Berlin 41

Matr.-Nr. 2382460

für das Seminar von

Prof. Dr. H. Rottleuthner: ,,WAS IST RECHTSDOGMATIK?", WS 1990/91

Gliederung

J. H. v. Kirchmann: Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1847)

I. Zeit und Person von Kirchmanns

II. Die Lage der Rechtswissenschaft 1847

III. Die Kritik von Kirchmanns an der Jurisprudenz

a) Zweifel an der Bedeutung der Jurisprudenz

b) Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz

1. Die Veränderlichkeit des Gegenstandes

2. Fortschrittsfeindlichkeit

3. Die Eigentümlichkeit des Fühlens

4. Die Gestalt des positiven Gesetzes

5. Schematismus

6. Willkür

7. Recht als Besitz eines besonderen Standes

8. Der Einzelfall

9. Die Lösung des Problems

IV. Zur Kritik an von Kirchmann

a) Die Beurteilung der Rede von Kirchmanns durch G. Neeße (1938)
b) K. Larenz ,,Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" (1966)
c) W. Hülle: ,,J. H. v. Kirchmann und kein Ende" (1984)

Literatur

Julius Herrmann von Kirchmann (1802-1884)

Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1847)

I. ZEIT UND PERSON VON KIRCHMANNS

J. H. v. Kirchmann wurde 1802 in der Nähe von Merseburg als Sohn eines kursächsischen Majors geboren und lebte bis 1884.

Die Zeit von von Kirchmanns beruflicher Entwicklung fiel in Deutschland in die Zeit des Vormärz (1816 bis Februar 1848): es hatten sich die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt, ein nationaler Markt herausgebildet, und in der Landwirtschaft waren die feudalen in kapitalistische Produktionsverhältnisse auf dem ,,preußischen Weg", d. h. unter Beibehaltung des Großgrundbesitzes und feudaler Überreste, übergegangen.

Das Bürgertum Deutschlands, für dessen Ziele auch von Kirchmann ,,deutlich links von der Mitte" (Hülle, S. 749) Partei ergriff, forderte immer energischer die nationale Einheit und ein Staatswesen mit bürgerlichen Freiheiten.

Als Jurist und ,,eine der imponierendsten Richtergestalten des 19. Jahrhunderts" (Hülle, S. 748) hat von Kirchmann eine interessante und auch glänzende Karriere durchlaufen, aber auch drei Dienststrafverfahren erhalten.

Das damals erforderliche 3. Staatsexamen schloß er 27-jährig 1829 ab, wurde dann Oberlandesgerichtsassessor in Naumburg; Ende 1833 Kriminalrichter in Halle; 1835 Direktor des königlichen Staats- und Landesgerichts in Querfurt; ,,für die Verdienste, die er sich im Fortgang seiner Laufbahn u. a. auch um die Verbreitung des Grundbuchwesens in Kursachsen erwarb" (Meyer-Tscheppe, S. 57), erhielt er 1844 den ,,Roten Adlerorden".

Im Jahre 1846 wurde er nach Berlin zum Leitenden Staatsanwalt beim dortigen Kriminalgericht berufen und gelangte nach seiner berühmten Rede, die er 1847, also kurz vor Ausbruch der Revolution im März 1848, gehalten hatte, nach derselben in gleicher Eigenschaft an das Kammergericht Berlin.

Hier sei festgehalten, daß von Kirchmanns 1847 vor der Juristischen Gesellschaft gehaltener Vortrag auf dem Höhepunkt der politischen Umwälzungen Deutschlands vorgetragen wurde und, nach Larenz, auch ,,einen Höhepunkt in der Geschichte der so bedauerlichen Entfremdung zwischen der Theorie und der Praxis des Rechts in unserem Lande" bezeichnet. (Larenz, S. 5)

Der weitere Lebensweg von Kirchmanns nach 1848 soll hier nur angedeutet werden: Als leitender Staatsanwalt hatte er gelegentlich auch die Anklage in politischen Prozessen zu vertreten, und die Tatsache, daß er nach Auffassung des Justizministeriums diesbezüglich zu nachlässig war, brachte ihm Suspendierungen vom Dienst, Strafversetzung etc. ein.

Auch war er Anführer eines ,,hochverräterischen" Beschlusses der Nationalversammlung, der forderte, daß die Bürger so lange keine Steuern mehr entrichten sollten, ,,solange nicht die (zwangsweise nach dem provinziellen Brandenburg ausgelagerte, csk) Nationalversammlung (wieder in Berlin) ungestört tagen dürfe." (Hülle, S. 749).

Insgesamt brachte von Kirchmann es auf drei Dienststrafverfahren, deren letztes damit endete, daß ihm die Pension entzogen wurde.

1861 wurde er Abgeordneter für die Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhaus; im Jahr 1866 hielt er im Berliner Arbeiterverein einen Vortrag über den ,,Kommunismus in der Natur", in dem er den Arbeitern Beschränkung ihrer Kinderzahl empfahl als einzigen Ausweg aus ihrer sozialen Not. Dies war wohl zu viel des Guten, und hierdurch wurde er schließlich 1867 ,,durch Urteil des Disziplinargerichtshofes beim Obertribunal seines Amtes enthoben und seiner Pensionsansprüche für verlustig erklärt." (Meyer-Tscheppe, S. 59)

Als Bürger hatte er ,,Geschick in Spekulationsgeschäften" (M.-T., S. 59) und konnte somit ohne Pension gut leben. Er wandte sich wieder mehr politischer Tätigkeit zu und gab, als gründlicher Kenner der lateinischen, griechischen, französischen, englischen und italienischen Sprache, die ,,Philosophische Bibliothek" heraus; er war lange Jahre Vorsitzender der Philosophischen Gesellschaft.

Im preußischen Kulturkampf in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, der Auseinandersetzung zwischen Staat, Parteien und Katholischer Kirche, exponierte sich von Kirchmann und ergriff - obwohl Protestant - entschieden für die Katholische Kirche Partei. Dies brachte ihm die Kritik seiner politischen Freunde ein, so daß er 1877 auch noch seine Mandate verlor.


II. DIE LAGE DER RECHTSWISSENSCHAFT 1847

Ausgangspunkt seiner Kritik der Jurisprudenz

Zur damaligen Zeit (des Vormärz) herrschte an den juristischen Fakultäten die Auffassung Savignys vor, der in seiner Schrift ,,Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (1815) zusammen mit Eichhorn den romanistischen Zweig der historischen Rechtsschule (,,Historische Schule") begründete; hier verteidigte er seine Auffassung, daß die Situation in Deutschland für eine Gesamtrevision des Allgemeinen Landrechts und für die Einführung eines bürgerlichen Rechtes noch nicht reif sei und sprach seiner Zeit, wie auch jeder anderen, das Recht ab, die bestehenden Rechtsverhältnisse umzugestalten. Vor allem wandte er sich hiermit gegen den Rationalismus des Naturrechts, der von Thibaut vertreten wurde, und der 1814 in seiner Schrift ,,Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" ein einheitliches deutsches Zivilgesetzbuch gefordert hatte.

Gegen die vorherrschenden Auffassungen Savignys, dem ,,die Rechtsgeschichte -vornehmlich die römische - als des Rechtes vornehmste Quelle" galt (Hülle, S. 748), äußerte von Kirchmann seine ,,ketzerischen Gedanken, den Wissenschaftsanspruch der juristischen Lehrfächer zu ,hinterfragen’" (Hülle, S. 748), und führte jene ,,Brandrede gegen den Wissenschaftsanspruch der Jurisprudenz ..., die fortdauernde, tiefe Spuren hinterlassen hat", schreibt Hülle anläßlich der 100. Wiederkehr des Todestages von Kirchmanns im Jahr 1984 in seinem Aufsatz ,,J. H. von Kirchmann und kein Ende".

(S. 749)


III. DIE KRITIK VON KIRCHMANNS AN DER JURISPRUDENZ

,,Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft"

Von Kirchmann spricht von der Zweideutigkeit seiner Behauptung:

Einmal kann dies heißen, ,,daß die Jurisprudenz zwar eine Wissenschaft (sei), daß sie aber des Einflusses auf die Wirklichkeit und das Leben der Völker entbehre, wie ein solcher jeder Wissenschaft zukomme und gebühre." (von Kirchmann, S. 7)

,,Es kann aber auch heißen: ,die Jurisprudenz ist theoretisch als Wissenschaft wertlos; sie ist keine Wissenschaft und erreicht nicht den wahren Begriff derselben.’" (S. 7)


a) Zweifel an der Bedeutung der Jurisprudenz

Von Kirchmann stellt fest, daß er beides meint, und er fragt sogleich die Juristen: ,,Wen von den praktischen Juristen überfällt nicht manchmal das tiefe Gefühl der Leere und des Ungenügenden seiner Beschäftigung?" (S. 8) ,,Die heilige Justizia ist noch bis heute der Gegenstand des Spottes im Volke; und selbst der Gebildete, auch wenn er im Rechte ist, fürchtet, in ihre Hände zu geraten." (S. 8)

,,Welche Masse von Gesetzen, und doch, wie viele Lücken! Welches Heer von Beamten, und doch, welche Langsamkeit der Rechtspflege! Welcher Aufwand von Studien, von Gelehrsamkeit, und doch, welches Schwanken, welche Unsicherheit in Theorie und Praxis." (S. 8) ... ,,Die abstumpfende Kraft der Gewohnheit läßt selbst den besseren Teil der Juristen an dergleichen Erscheinungen bald gleichgültig vorübergehen, und wenn der Laie den Mund auftun will, so wird er vornehm damit abgewiesen, daß er die Sache nicht verstehe." (S. 9)


b) Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz

,,Die Jurisprudenz hat es, wie jede andere Wissenschaft, mit einem Gegenstande zu tun, der selbständig, frei und unabhängig in sich besteht, unbekümmert, ob die Wissenschaft existiert, ob sie ihn versteht oder nicht. Dieser Gegenstand ist das Recht, wie es in dem Volke lebt und von jedem Einzelnen in seinem Kreise verwirklicht wird; man könnte es das natürliche Recht nennen." (S. 9)

,,Der Gegenstand der Jurisprudenz ist also das Recht, und, näher betrachtet, sind es die reichen Gestalten der Ehe, der Familie, des Eigentums, der Verträge, der Vererbung des Vermögens, die Unterschiede der Stände, das Verhältnis der Regierung zum Volke, der Nationen untereinander. Diese Selbständigkeit des Rechtes gegenüber der Wissenschaft ist ein Satz von hoher Wichtigkeit" (S. 10), denn ,,ein Volk kann wohl ohne Rechtswissenschaft bestehen, aber nie ohne Recht." (S. 11)

Also ist die Aufgabe der Juristen ,,dieselbe wie die aller anderer Wissenschaften; sie hat ihren Gegenstand zu verstehen, seine Gesetze zu finden, zu dem Ende die Begriffe zu schaffen, die Verwandtschaft und den Zusammenhang der einzelnen Bildungen zu erkennen und endlich ihr Wissen in ein einfaches System zusammenzufassen" (S. 12), und er fragt: ,,Wie hat die Jurisprudenz diese Aufgabe gelöst?"

Bei der Beantwortung dieser Frage kommt er zu einem niederschmetternden Ergebnis.

Schuld trifft hier seines Erachtens ,,nicht die Personen, nicht die Bearbeiter der Wissenschaft." (S. 14) Der Grund für den Mangel an Wissenschaft kann ,,nur in dem Gegenstand liegen, in geheimen, hemmenden Kräften, welche dem Gegenstand einwohnen, den Anstrengungen des menschlichen Geistes in dieser Region hindernd entgegentreten."

(S. 15)

Und er beabsichtigt, eine ,,Vergleichung des Gegenstandes der Jurisprudenz mit den Objekten anderer Disziplinen." (S. 15)

Er findet ,,unterscheidende Bestimmungen, welche dem Recht eigentümlich, in den Gegenständen anderer Wissenschaften nicht angetroffen werden." (S. 15)


1. Die Veränderlichkeit des Gegenstandes

Vor allem stellt er ,,die Veränderlichkeit des natürlichen Rechts als Gegenstand der Jurisprudenz" fest. (S. 15) Während die Gegenstände der Natur heute wie vor 1000 Jahren erscheinen, hat beispielsweise die Institution der Ehe ,,die mannigfaltigsten Bildungen durchlaufen." (S. 15) Stets gilt seiner Ansicht nach: Hat ,,die Rechtswissenschaft... endlich nach langjährigen Bemühungen den wahren Begriff ... gefunden, so ist inzwischen der Gegenstand schon ein anderer geworden." (S. 17)


2. Fortschrittsfeindlichkeit

Von Kirchmann stellt fest, ,,daß überhaupt die Rechtswissenschaft sich dem Fortschritt des Rechts gern feindlich entgegenstellt." (S. 17)

Zum Beispiel: ,,Die deutsche Ehre und Väterliche Gewalt, die deutschen Servituten und Standesverhä1tnisse wurden gewaltsam unter Begriffe des römischen Rechts gebracht, mit denen sie kaum mehr als den Namen gemein hatten..." (S. 18) ,,Das Privatrecht in der ersten Zeit des römischen Staates war offenbar das Erzeugnis der ärgsten Despotie, welche der Adel und die Priester über das Volk ausübten; steife Formen und Formeln hemmten Verkehr und Rechtsverfolgung ... Die ganze Entwicklung des Privatrechts durch die Zeiten der Republik und des Kaisertums hindurch ist nichts als die fortschreitende Befreiung des Rechts aus diesen Fesseln. Dieser Richtung entgegen haben die römischen Juristen mit eigensinniger Pedanterie an den alten unfreien Instituten festgehalten und sie als die Hauptform, auch für die Bildung der späteren Zeit, aufgestellt." (S. 19)


3. Die Eigentümlichkeit des Fühlens

Von Kirchmann ist davon überzeugt, ,,daß das Recht nicht bloß im Wissen, sondern auch im Fühlen ist, daß (der) Gegenstand (der Jurisprudenz) nicht bloß im Kopfe, sondern auch in der Brust des Menschen seinen Sitz hat", und er fügt hinzu: ,,Die Objekte anderer Wissenschaften sind von diesem Zusatz frei." (5. 21) ,,Welche Erbitterung, welche Leidenschaften, welche Parteiungen mischen sich in die Aufsuchung der Wahrheit!" (S. 21) ,,Alle Fragen des öffentlichen Rechts sind davon durchzogen. Ob Konstitution oder nicht, ob Pressefreiheit oder Zensur, ob zwei Kammern oder eine, ob die Juden zu emanzipieren, ob die Prügel als Strafart zu behalten oder nicht, man darf diese Fragen nur nennen, und die Brust eines jeden hebt sich höher." (S. 21)

,,Diese Eigentümlichkeit des Rechts", fährt von Kirchmann fort, ,,soll durchaus nicht als ein Tadel desselben aufgestellt werden; im Gegenteil, gerade darin mag sein höchster Wert liegen. Aber die Frage meiner Untersuchung ist nur, ob der Wissenschaft des Rechts dadurch eine Erleichterung oder eine Schwierigkeit entstehe. Und hier leuchtet ein, daß die Untersuchungen der Wissenschaft dadurch nur erschwert sein können. Das Gefühl ist nie und nirgends ein Kriterium der Wahrheit; es ist das Produkt der Erziehung, der Gewohnheit, der Beschäftigung, des Temperaments, also des Zufalls;" (S. 22) ,,... deshalb muß im Recht erst die Zeit mit ihrer beruhigenden Macht über diese Fragen hinweg gegangen sein, ehe die Wissenschaft hervortreten und frei die Wahrheit finden kann; aber freilich, dann meist zu spät." (S. 23)


4. Die Gestalt des positiven Gesetzes

,,Alle Wissenschaften haben zu allen Zeiten", fährt von Kirchmann fort, ,,neben den wahren auch falsche Gesetze; aber die Unwahrheit derselben bleibt ohne Einfluß auf ihren Gegenstand; die Erde drehte sich doch fortwährend um die Sonne, trotzdem Ptolemäus das Gegenteil als Gesetz aufstellte ... Anders ist es mit den positiven Gesetzen des Rechts. Mit Gewalt und Strafen umgürtet, zwingen sie sich, ob wahr oder falsch, dem Gegenstand auf; das natürliche Recht muß seine Wahrheit hingeben und nach ihnen sich beugen... ,, (S. 24) ,,Das Wissen selbst, das falsche und mangelhafte, überwältigt das Sein." (S. 24f)

Für von Kirchmann steht es außer Zweifel: ,,Die Nachteile des positiven Gesetzes für das natürliche Recht sind allbekannt (S. 25), ,,der Inhalt des positiven Gesetzes (enthält) neben dem Wahren auch genug des Unwahren." (S. 25) ,,Das positive Gesetz ist starr, das Recht fortschreitend; deshalb wird selbst die Wahrheit jenes mit der Zeit zur Unwahrheit." (S. 25f)

,,Das positive Gesetz ist abstrakt; seine notwendige Einfachheit vertilgt den Reichtum der individuellen Gestaltung. Deshalb die Zwittergestalten der Billigkeit, des richterlichen Ermessens." (S. 26)

,,Das positive Gesetz ist in seiner letzten Bestimmtheit bare Willkür. Ob die Großjährigkeit mit dem 24. oder 25. Jahre beginnen, ob die Verjährungsfrist 30 Jahre oder 30 Jahre, 6 Wochen und 3 Tage betragen, ob die schriftliche Form der Verträge gerade mit 15 Talern beginnen soll, das bestimmte Maß der Strafen - wer vermöchte die Antwort dafür aus der Notwendigkeit des Gegenstandes abzuleiten." (S. 26)

,,Das positive Gesetz ist endlich die willenlose, allzeit bereite Waffe, nicht minder für die Weisheit des Gesetzgebers wie für die Leidenschaft des Despoten. (S. 26) ,,Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur von dem faulen Holz leben; von dem gesunden sich abwendend, ist es nur das Kranke, in dem sie nisten und weben" (S. 28f), und von Kirchmann gipfelt in dem Satz:

,,Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur." (S. 29)

Als Beispiel hierfür führt er an: ,,Die Frage, ob es 2 oder 3 Grade der culpa (Schuld) gebe, ist jahrhundertelang der Zankapfel der Juristen gewesen" (S. 30) und spiele nun keine Rolle mehr. Er faßt zusammen, ,,daß nur der Irrtum, das Mangelhafte aller Art der Gegenstand ist, dem die Jurisprudenz sich beinahe ausschließlich zuwendet ..." (S. 36)


5. Schematismus

Ferner stellt er fest: ,,Der Schematismus, die starre Form des positiven Gesetzes dringt in die Rechtswissenschaft; den Reichtum der Individualität muß die Wissenschaft verschmähen, selbst wenn sie ihn erkannt hat." (S. 37)


6. Willkür

,,Die Willkür in den letzten Bestimmungen des positiven Gesetzes zieht auch in die Wissenschaft ein. Das Willkürliche ... für Formen, Fristen, Belehrungen muß seiner Natur nach, trotz der sorgfältigsten Redaktion, eine unversiegbare Quelle des Zweifels bleiben ... Alle Kommentare sind da am dickleibigsten, wo es sich um solche Formalien handelt." (S. 37)


7. Recht als Besitz eines besonderen Standes

,,Ein Volk muß wissen, was das Recht im einzelnen fordert, und es muß mit Liebe seinem Recht ergeben sein," sagt von Kirchmann. ,,Werden dem Recht diese Momente genommen, so bleibt es wohl ein großes Kunstwerk, aber ein totes, kein Recht mehr! Indem nun die Wissenschaft an das Recht als ihren Gegenstand herantritt, ist die Zerstörung dieser Elemente unvermeidlich. Das Volk verliert die Kenntnis seines Rechts und seine Anhänglichkeit an dasselbe; es wird der ausschließliche Besitz eines besonderen Standes ... So gerät die Wissenschaft mit sich selbst in Widerspruch; sie will den Gegenstand nur begreifen, und sie zerdrückt ihn." (S. 39)

,,Die Wissenschaft, ihres natürlichen Bodens dadurch entbehrend, gerät nur zu leicht auf die Abwege der Sophisterei, der unpraktischen Grübeleien; Subtilitäten ohne Ende kommen vor, Auswüchse aller Art, woran die juristische Literatur so reich ist." (S. 39f) Und er fährt fort: ,,Das Schwanken der Gesetzgebung ist eine andere Folge; ja, bis zum Experimentieren läßt der Gesetzgeber sich herab. Die Prozeßgesetzgebung Preußens seit 1833 gibt hierzu einen Beleg, namentlich die Gesetze über die Rechtsmittel." (S. 40)


8. Der Einzelfall

,,Der größte Übelstand tritt aber in der Handhabung des Rechts für den Einzelfall hervor", stellt von Kirchmann fest. (S. 40) Die Prozesse, ,,wo das Recht streitig ist, ... sinken durch diese zerstörende Wirkung der Wissenschaft für die Nation zu einer bloßen Operation, Spekulation, wie jede andere herab; von der Verwirklichung des Rechts im wahren Sinne bleibt dabei keine Spur." (S. 40)

,,Kein Teil weiß dabei, wer Recht habe; die innere Stimme schweigt; die Advokaten werden befragt; nur äußere Erwägungen, die Wahrscheinlichkeit des Sieges, die Kostspieligkeit des Versuchs, die lange Dauer des Verfahrens bestimmen den Entschluß. Gewinnt man, nun gut, dann ist die Spekulation geglückt; verliert man, nun, so tröstet der verständige Mann sich ebenso, wie der Kaufmann, der seine reiche Ladung im Sturm verloren hat; ... Von Recht ist dort wie hier keine Spur, kein empörtes Gefühl über erlittenes Unrecht, keine stolze Erhebung der Brust, daß das Recht den Sieg erhalten." (S. 40f)

,,Der äußere Gang des Prozesses ist wie dazu geschaffen, diese Ansicht zu unterstützen. Selbst der Richter, der Gelehrte wissen nicht unmittelbar, was in dem vorgelegten Falle rechtens ist. Erst müssen dicke Gesetzbücher, staubige Kommentare nachgeschlagen werden ... Was mit Scharfsinn und Gelehrsamkeit in erster Instanz als das Wahre künstlich bewiesen ist, das wird mit gleichem Scharfsinn und gleicher Gelehrsamkeit in zweiter Instanz als das Unwahre bewiesen, und ein Glück, wenn in dritter Instanz die Wahrheit sich nicht nochmals verkehrt ... Die Rechtspflege ist durch die Wissenschaft zum Glücksspiel geworden; nebenbei führt niedrige Leidenschaft durch sie einen kleinen Krieg, weil der Frieden einen größeren ihr unmöglich macht." (S. 41)

,,Die Sprache des gemeinen Mannes hat für diesen Zustand bezeichnende Ausdrücke. Fragt man einen Bauer, wie es mit seinem Prozesse stehe, so ist die Antwort: Er schwebt noch; ein vortreffliches Wort für den schleichenden Fortgang der Sache, die völlige Unverständlichkeit derselben für die Partei. Hat der Bauer den Prozeß verloren, so sagt er nicht, daß er Unrecht gehabt, sondern: Ich habe verspielt. Der Verlust des Prozesses und die Verwüstung seines Feldes durch Hagelschlag sind ihm Ereignisse ganz gleicher Natur; Unglück, aber kein Unrecht." (S. 42)

,,Aus diesem innern Widerspruch zwischen Zweck und Resultat der Jurisprudenz ist ferner jene sonderbare Empfehlung und Begünstigung der Vergleiche hervorgegangen", sagt von Kirchmann, und es ,,ist von dem Standpunkt der Wissenschaft jede solche Zumutung zum Vergleich eine Schmach für dieselbe; das klarste testamonium paupertatis (Armutszeugnis)". (S. 43)


9. Die Lösung des Problems

Wie will von Kirchmann diese Situation nun verändern? Er fragt z. B.: ,,Was soll nun die Nation mit ihren Juristen machen, die ihr zu Vergleichen raten?" Die Lösung des Problems sieht er darin, ,,das Rechtsprechen den Händen der gelehrten Richter zu entziehen und der Nation zurückzugeben; mit einem Wort, das Recht wieder in sein Recht einzusetzen. Nur so ist der Widerspruch erklärlich, daß man die Pfuscher in der Medizin bestraft und die Pfuscher in der Jurisprudenz privilegiert." (S. 44) Auch beruht seiner Ansicht nach ,,das Verlangen nach Geschworenengerichten ... auf demselben Grund". (S. 45)

,,Die Nation ist der wissenschaftlichen Juristen überdrüssig. ... Noch traut man sich nicht, diese Gedanken klar zu denken..." (S. 45) Sodann würde ,,eine Minderung der positiven Gesetze ... die weitere gute Folge sein." (S. 45) „Die Prozesse werden dann nicht soviel Tage dauern, als jetzt Monate und Jahre; die Kosten werden niemand mehr abschrecken, sein gutes Recht zu verfolgen." (S. 45)

Dem Kritiker wirft er entgegen: ,,Man wende gegen diese Angriffe nicht ein, daß dergleichen Dinge nicht zur Rechtswissenschaft, sondern zur Politik und Kunst der Gesetzgebung gehörten. Dies eben ist das Klägliche der Jurisprudenz, daß sie die Politik von sich aussondert, daß sie damit sich selbst für unfähig erklärt, den Stoff, den Gang der neuen Bildungen zu beherrschen oder auch nur zu leiten, während alle anderen Wissenschaften dies als ihren wesentlichen Teil, als ihre höchste Aufgabe betrachten."

(S. 52)


IV. Zur Kritik an von Kirchmann

a) Die Beurteilung der Rede von Kirchmanns durch G. Neeße (1938)

Dr. jur. G. Neeße (geb. 1911), seinerzeit Leiter des Rechtsamtes der Hitler-Jugend in Sachsen (zit. n. E. Stockhorst, S. 305), stellte in seiner Einleitung zur Herausgabe der Schrift von Kirchmanns im Jahr 1938 im Kohlhammer Verlag fest, daß von Kirchmann sowohl als einer ,,der großen Vorkämpfer eines wahrhaft deutschen Volksrechtes" gepriesen als auch ,,als einer der Feinde echter Jurisprudenz gescholten" wurde. (S. 5) Er bezeichnet ihn als einen ,,überzeugten Demokraten", der ,,wacker für die neuen politischen Ideale seiner Zeit für Fortschritt und Aufklärung" stritt, ohne dabei anscheinend ,,je in republikanische, dem Königtume feindliche Gedanken abzuirren." (S. 5) ,,Diese kleine Rede", so heißt es weiter, ,,hält den Namen des Mannes noch heute lebendig. Es ist eine der geistvollsten und bedeutsamsten Reden, die je in deutscher Sprache gehalten worden sind." (S. 10)

Nach der Auffassung Neeßes liegt der Schwerpunkt der Kritik von Kirchmanns in ihrer Bedeutung ,,als eine der überzeugendsten und wichtigsten Auseinandersetzungen, die jemals mit dem Liberalismus im Rechte geführt worden sind," (S. 10), den allein er ,,für Wachstum und Blüte der juristischen Konstruktion, der Kommentarvergötzung, der Auslegung der Auslegungen" (S. 13) verantwortlich machen will.

Schwierigkeiten ergeben sich hierdurch für Neeße insofern, als er zuvor von Kirchmann als einen ,,liberalistischen Politiker" bezeichnete, doch sei es eine Tatsache, daß von Kirchmann ,,Gedanken äußerte, die sich im Endergebnis gegen den Liberalismus auswirken mußten." (S. 11)

Der Anspruch der Nationalsozialisten, Recht und Gesetz nach dem Willen und im Interesse des Volkes praktizieren zu wollen, nötigt ihnen die Rechtfertigung auf, Vollender der Ideen und der Kritik von Kirchmanns zu sein. So behauptet Neeße, ,,daß von Kirchmann ... zu der Wiedergeburt eines wahrhaften, völkischen Rechtes beigetragen und einer echten, völkischen Rechtswissenschaft Bahn gebrochen hat." (S. 14)

Andererseits aber wird von ihm sehr wohl festgestellt, daß von Kirchmann ,,den unüberbrückbaren Gegensatz von Jurisprudenz und Volksrecht geschildert" hat (S. 13), und man befindet sich somit in einem Dilemma, weil ja gerade des deutsche Volk seit Beginn der Terror-Herrschaft der Nationalsozialisten eine ungeheuerliche Gesetzesflut erlebte, die alles andere als eine Liquidation der Jurisprudenz zugunsten des Volkes war, wie sie noch von Kirchmann vorgeschwebt hatte: ,,Mit leidenschaftlicher Entschiedenheit bestreitet von Kirchmann den Wert der Rechtswissenschaft für das Recht des Volkes" (S.13), stellt Neeße fest, wobei auffällt, daß hier geschickt das Problem der Wissenschaftlichkeit durch die Frage nach der Nützlichkeit ersetzt wird.

Nachdem die Wissenschaftlichkeit durch die Nützlichkeit ersetzt wurde, kommt Neeße auch sogleich auf ,,eine Reihe anfechtbarer und auch unrichtiger Gedanken" von Kirchmanns zu sprechen. (S. 14)

Nicht abfinden kann er sich mit dem Gedanken von Kirchmanns, ,,daß eine Einschränkung oder Beseitigung der Justiz, der behördlichen und wissenschaftlich begründeten Rechtsprechung, der Verwirklichung eines wahrhaften Volksrechts zugute käme." (S. 14)

Hauptpunkt der Kritik Neeßes wird nun die von von Kirchmann konstatierte Veränderlichkeit allen Rechtes: ,, ... in der Gegenwart finden wir in der nationalsozialistischen Weltanschauung die Möglichkeit, die Jurisprudenz in einer Völkischen Wissenschaft zu überwinden." Und Neeße fährt fort: ,,Für uns ist das Recht heute nicht mehr eine veränderliche Größe, die sich je nach den inneren und äußeren Lebensverhältnissen des Volkes wandelt, sondern liegt für alle Zeiten in der Idee des Nationalsozialismus fest." (S. 17)

Unter diesem Gesichtspunkt ist alles, was sich der nationalsozialistischen Weltanschauung entgegenstellt, ,,Hemmnis und Ärgernis für das eine große und ewige Recht des Volkes" und ,,der Feind der deutschen Rechtserneuerung"; vor allem ist dies ,,die Jurisprudenz". (S. 19)

Offensichtlich hatte Neeße Schwierigkeiten damit, von Kirchmanns Rede für den Nationalsozialismus auszuschlachten. Hatte er noch auf S. 10 festgestellt, ,,daß der eigentliche Wert dieser Rede von den meisten Beurteilern völlig verkannt" worden ist. (Verf. kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß wir vielleicht im Falle der nationalsozialistischen Bewertung auch so einen verkennenden Beurteiler vor uns haben.)


b) K. Larenz ,,Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" (1966)

Im Jahr 1938 noch hatte G. Neeße festgestellt: ,,Man wird diese Rede immer wieder zur Hand nehmen, sich immer wieder mit ihr auseinandersetzen müssen." (Neeße, S. 10)

Auch Dr. K. LARENZ (geb. 1903) setzt sich 1966 vor der Juristischen Gesellschaft mit von Kirchmanns Rede auseinander, und er ,,bezweckt hiermit eine ,,gewisse Bestandsaufnahme des Selbstverständnisses der heutigen Rechtswissenschaft in ihrem Verhältnis zur Rechtspraxis." (S. 5)

Aus dem Thema, das Larenz seiner Rede verleiht, geht klar hervor, daß er sich ,,kritisch" mit von Kirchmann auseinandersetzen wird, und er stellt von vornherein fest, daß es ,,verhältnismäßig leicht" sei, die einzelnen Aussagen ,,als unrichtig oder doch als weit übertrieben nachzuweisen." (S. 8) Aber auch er kann sich der Schärfe der von Kirchmannschen Kritik nicht entziehen, und er fährt fort: ,,Dennoch: so leicht die vordergründigen Argumente Kirchmanns auch zu widerlegen sind, es bleibt ein Stachel, eine Herausforderung, der wir uns stellen wollen." (S. 9)

Die Tatsache, daß von Kirchmann letzten Endes einer Abschaffung der Jurisprudenz das Wort redet und ,,zu der am positiven Gesetz orientierten wissenschaftlichen Jurisprudenz keine Alternative" anbiete (S. 10, Fußnote), ,,dieser Mangel einer positiven Ergänzung seiner ausschließlich negativ gerichteten Ausführungen", sagt Larenz, ,,wiegt schwerer als alles, was man gegen diese im einzelnen vorbringen mag." (S. 10)

Dann stellt Larenz von Kirchmann seine Theorie von der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz unter Verweis auf seine ausführlichere ,,Methodenlehre der Rechtswissenschaft" (1960) gegenüber.

Er kritisiert einen zentralen Satz von Kirchmanns: ,,Wer den Begriff der Wissenschaft so eng faßt", schreibt er, ,,daß darunter lediglich die von empirischen Voraussetzungen abhängige reine Logik und Mathematik sowie die Naturwissenschaft fällt, insoweit sie sich ausschließlich auf quantitative Größen richtet und ihre Ergebnisse daher in mathematischen Relationen auszudrücken vermag, der kann selbstverständlich die Rechtswissenschaft sowenig als eine echte Wissenschaft ansehen, wie irgendeine andere Geisteswissenschaft." Und er fährt fort: ,,Ich halte diese Einengung des Wissenschaftsbegriffes, die das Ergebnis einer ganz bestimmten Stufe der Entwicklung der Wissenschaften war, nicht für berechtigt; vielmehr meine ich, daß Wissenschaft jedes rational nachprüfbare Verfahren sei, das mit Hilfe bestimmter, am Gegenstand entwickelter Denkmethoden geordnete Erkenntnisse zu gewinnen sucht. In diesem Sinne, ... ist auch die Rechtswissenschaft eine Wissenschaft." (S. 11)

Nach Larenz ist also die Jurisprudenz dann eine Wissenschaft, wenn sie ein ,,rational nachprüfbares Verfahren ist, das mit Hilfe bestimmter Denkmethoden geordnete Erkenntnisse zu gewinnen versucht", und er wendet die Frage, man könnte sagen, gleichermaßen wie Neeße 1938, dahin, daß er sich damit ,,befassen will"", zu untersuchen, ,,was die Rechtswissenschaft ... für das praktische Rechtsleben ... zu leisten, und was sie nicht zu leisten vermag." (S. 11)

Larenz konstatiert also in einem ersten Schritt die ,,Wissenschaftlichkeit" der Jurisprudenz und ist auf diese Weise rasch mit von Kirchmanns Kritikpunkten fertig, und dann beschwört er uns, nach der pragmatischen Methode der Beharrlichkeit, die darüber hinausgehende Nützlichkeit der Jurisprudenz zu sehen und anzuerkennen, indem wir ihre ,,Unentbehrlichkeit" einsehen.

Er geht also nicht im einzelnen auf von Kirchmanns Kritik ein, sondern bezieht die Position der von Kirchmann kritisierten Jurisprudenz. Sagte noch von Kirchmann, die Jurisprudenz sei überflüssig, weil unwissenschaftlich, so sagt Larenz, sie sei wissenschaftlich, weil sie unentbehrlich sei:

,,Die Rechtswissenschaft ... ist ... unentbehrlich." (S. 12f)

Nach L. ,,bedarf die Rechtspraxis (nicht nur) ständig der Rechtswissenschaft, sondern auch diese jener." (S. 12) Und ,,in Anlehnung an ein bekanntes Wort KANTs könnte man sagen: Rechtspraxis ohne Rechtswissenschaft ist blind, aber reine Rechtswissenschaft ohne ständige Auseinandersetzung mit den Problemen, die aus der Praxis auf sie eindringen, ist leer. Das Verhältnis ist also das einer Wechselwirkung." (S. 12)

Die Aufgabe der Rechtswissenschaft sei eine dreifache:

1. ,,Sie legt die Gesetze aus" (,,Gesetzesinterpretation)

2. ,,sie bildet das Recht gemäß den der Rechtsordnung immanenten Wertmaßstäben und den in ihr liegenden gedanklichen Möglichkeiten fort" (,,Rechtsfortbildung") und

3. ,,sie sucht immer aufs neue die Fülle des Rechtsstoffs unter einheitlichen Gesichtspunkten zu erfassen, nicht nur um der äußeren Einheit und Übersichtlichkeit willen, sondern auch, um so weit als möglich eine innere Einheit, eine sachliche Übereinstimmung der einzelnen Regeln herbeizuführen" (,,Vereinheitlichung des Rechtsstoffs"). (S. 12)

Larenz stellt fest, daß von Kirchmann von den Methoden ,,der teleologischen Gesetzesauslegung, der Auslegung entsprechend der Funktion einer Norm im Rahmen eines Rechtsinstitutes oder eines größeren Lebenszusammenhanges sowie gemäß den Prinzipien und Wertmaßstäben der gesamten Rechtsordnung, insbesondere den Wertsetzungen des Grundgesetzes (,,verfassungskonforme Auslegung")"" ... ,,noch nichts wußte" (5. 14) und deshalb zu seinem vernichtenden Urteil kommen mußte, das ,,die heutige Situation gewiß nicht mehr" trifft. (S. 15)

Auch Larenz drängt sich die Frage auf, ob denn nun durch ,,das reichere Instrumentarium der Auslegungsmethoden ... die Entscheidungen unserer Gerichte besser, d. h. gerechter, vernünftiger, oder auch nur berechenbarer geworden" (S. 15) seien, und er meint: ,,Wer von den Methoden der Jurisprudenz verlangt, daß sie stets zu absolut sicheren, gleichsam mathematisch beweisbaren, berechenbaren Ergebnissen führen, der verkennt allerdings das Wesen des Rechts und damit die Grenzen, die aller Rechtswissenschaft von der Natur ihres Gegenstandes her gezogen sind. Mathematische Gewißheit gibt es in Fragen des Rechts nicht, weil es nicht um lediglich quantiative Größen geht. Es geht um menschliche Belange, menschliche Schicksale, auch um verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen und Wertungen. Es geht um Konflikte, deren Entscheidung notwendig den einen oder den anderen Teil zurücksetzt, ja ihn oft genug in SEINEM Rechtsempfinden verletzen wird. Hier ein Urteil zu finden, das nicht nur den Knoten durchschneidet, sondern das in überzeugender Weise als eine gerechte Lösung des Konfliktes eingesehen werden kann, ist schwer, mitunter sogar unmöglich." (S. 15f)

Könnte man nicht sagen, daß dies gerade die Aussage von Kirchmanns war?

Larenz stellt weiter fest, daß selbst ,,wenn ... alle Prämissen (eines Rechtsfalles, csk) richtig erkannt sind, bleibt immer noch die Aufgabe der Wertung."" (S. 16)

Aber für Larenz beginnt hier noch nicht die Unwissenschaftlichkeit, weil hier ,,die Möglichkeit rationaler Kontrolle" (S. 16) noch nicht ende, sondern die ,,im Gesetz enthaltenen Wertmaßstäbe" (S. 16) dem Richter in die Hand gelegt würden, die ,,herauszuarbeiten" Aufgabe des Richters sei, wodurch sich ein ,,hoher Grand von Evidenz, wenn auch nicht ... mathematischer ergibt." (S. 16f)

Larenz glaubt also, die Erweiterung der Wertungen durch die Diskussion der Wertungsmaßstäbe führte schließlich zur Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz. So kommen wir zu dem Ergebnis, ,,daß mehrere denkbare Lösungen gleichermaßen ,vertretbar’ seien. Es ist dies etwas, was" - was auch von Kirchmann bereits kritisierte (csk) - ,,der Laie häufig nicht versteht" (S. 17), und ,,der Jurist (muß sich) häufig mit nur subjektiver Gewißheit begnügen." (S. 17) Nach Larenz kommt es also darauf an, ,,das ... gefällte Werturteil als solches deutlich zu machen", um hierdurch dem ,,Ideal einer auf einsichtig zu machenden Gründen beruhende Rechtsprechung"" zu entsprechen. (S. 17)

In Sachen ,,Rechtsfortbildung", die von der Auslegung zur Lückenfeststellung zur Lückenergänzung schreitet, bietet Larenz mehrere Methoden, wie z. B. Analogie und teleologische Reduktion an. Die Gewährleistung der Wissenschaftlichkeit der Rechtsfortbildung sieht Larenz dadurch gegeben, daß Gerichte ,,dafür eine Begründung ... geben, die wissenschaftlich wenigsten vertretbar ist." (S. 19f) Die Auflage, eine Begründung zu geben, stellt nach Larenz eine ,,Kontrolle" dar, ,,die allein eine wissenschaftliche Methode zu bieten vermag" (S. 20); ohne sie wäre ,,die Gefahr übergroß, daß der Richter, selbstverständlich ohne sich dessen bewußt zu sein, doch am Ende nur seine persönliche Wertung an die Stelle derjenigen des Gesetzes setzt." (S. 20)

In ,,der Verallgemeinerung wiederkehrender Bezüge, der Bildung übergeordneter Begriffe und der Aufdeckung ihrer Zusammenhänge" (S. 21) besteht also für Larenz im wesentlichen die Rechtswissenschaft, und er fügt hinzu: ,,Das ist ... die spezifisch systematische Leistung der Rechtswissenschaft." (S. 21)

Bei Larenz schrumpft also Rechtswissenschaft zum ,,methodisch geleiteten Bemühen um eine rationale Erfassung, Auslegung und Fortbildung des geltenden Rechts", und sie ist somit ,,für das Rechtsleben unentbehrlich." (S. 21)

Möglicherweise fällt Larenz hier auf, daß eine solche Definition von Rechtswissenschaft sich ohne Mühe auch im Nationalsozialismus hätte vertreten lassen, wenn sie nicht gar vertreten wurde, jedenfalls spricht er im Anschluß hieran die Frage der von Kirchmann gegeißelten Willkür an, die von Kirchmann vor allem auch in der Zufälligkeit vieler Gesetze erblickte.

Nachdem sich Larenz die Frage gestellt hat, was ,,denn überhaupt der Gegenstand der Rechtswissenschaft" (S. 22) sei, kommt er zu dem Ergebnis, daß dies ,,zweifellos ... das positive Recht" sei, aber auch ,,die rechtlich geordneten Lebensverhältnisse selbst." (S. 22) Seiner Auffassung nach würde dies noch zu oft übersehen, und es sei ,,die Hereinnahme der typischen Lebensverhältnisse in die juristische Betrachtung ... eines der hervorstechenden Kennzeichen der modernen Rechtswissenschaft."" (S. 22f)

Auch sei ,,am positiven Recht nicht alles ,positiv’, d. h. durch zufällige Umstände oder gar durch die Willkür des Gesetzgebers bedingt. Die Probleme, die norm- und die sachlogischen Strukturen, die ,Realien der Gesetzgebung’ sind dem Gesetzgeber und auch dem Richter weitgehend vorgegeben und lassen sich nicht beiseite schieben." (S. 23)

War nicht gerade dies die Definition, die von Kirchmann dem sog. ,,positiven Recht" angedeihen ließ, daß es als ,,vorgegebenes"" Recht im Raume steht und ,,sich nicht beiseite schieben läßt"?

Auch die Gesetzes des Dritten Reiches waren „weitgehend vorgegeben" und ließen ,,sich nicht beiseite schieben"; gerade deswegen waren sie ja in den Augen der Juristen ,,positives Recht", und vor allem waren diese pure Willkür.

Larenz beschließt seine Betrachtungen damit, daß er noch eine 4. Aufgabe der Jurisprudenz benennt, nämlich die Vorbereitung der Gesetzgebung, die ,,der Gesetzgeber" vornimmt. Diesbezüglich hätte sich auch von Kirchmann engagiert, ,,ohne sich dessen anscheinend bewußt geworden zu sein." (S. 24)

Nachdem es Larenz gelungen ist, am Kern der von Kirchmannschen Kritik vorbei zu argumentieren, kommt er mit demselben zu dem Ergebnis, daß die Rechtswissenschaft ,,nur zu leicht auf die Abwege der Sophisterei, der unpraktischen Grübeleien (gerät); Subtilitäten ohne Ende kommen hervor, Auswüchse aller Art, woran die juristische Literatur so reich ist" (S. 25), und Larenz muß gestehen, ,,daß diese Vorwürfe auch heute noch einige Berechtigung haben." (S. 25)

Es ist interessant, daß Larenz 1966 einen Rückblick über die deutsche Rechtsgeschichte vornimmt, ohne auch nur ein einziges Wort über die Jurisprudenz im Nationalsozialismus zu verlieren. Er stellt lediglich fest: ,,Umwege und Irrtümer haben zu allen Zeiten den Weg der Wissenschaft gekennzeichnet, nicht nur der Rechtswissen-schaft." (S. 26) Hier wäre vielleicht die Diskussion erforderlich, inwieweit die Methodenlehre von Larenz es ermöglichen soll, die ,,Irrtümer" und ,,Umwege", die die Rechtswissenschaft im Dritten Reich offensichtlich gekennzeichnet haben, unsere heutige Rechtswissenschaft davor zu bewahren, daß ihr nicht Gleiches geschieht.

Das scheint aber nicht das Thema von Larenz zu sein, wie der Titel nahelegt. Auch stellt er abschließend fest, daß es keinen Grund gibt, ,,die Rechtswissenschaft als nutzlos abzutun". (S. 26) Mag sie also wissenschaftlich sein oder nicht - wenigstens ist sie nicht nutzlos, auch wenn man „am Ende erkennt, daß so gut wie alles fragwürdig ist." (S. 27)

Und er tröstet uns mit den Worten: ,,Die FRAGE aber ist es, die überall in der Wissenschaft den Anstoß gibt." (S. 27). Und vielleicht sollten wir gleich mit der Frage beginnen: ,,Wem aber nützt die Rechtswissenschaft?"


c) W. Hülle: J. H. von Kirchmann und kein Ende (1984)

Anläßlich der Wiederkehr des 100. Todestages von Kirchmanns im Jahr 1984 beschäftigt sich Dr. W. Hülle in einem „Exkurs" mit der Rede von Kirchmanns. Hier stellt er fest, daß ,,sich die Rechtsgelehrten bis heute nicht darüber einigen konnten, wie jene beiden Größen (,,Wissenschaft" und ,,Recht", csk) letztlich zu verifizieren seien," und er fährt fort: ,,Die jüngste Rechtsgeschichte der BRD liefert ein treffendes Beispiel für einen Systembruch, der große Kapitel des Familienrechtes in den Lehr- und Erläuterungsbüchern zur Makulatur werden ließ: den Übergang vom Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip." (S. 752)

Gleichsam eine Kritik von Kirchmanns und von Larenz einschließend fragt er: ,,Mögen ... die Zweifel von Kirchmanns angebracht sein - begründet dann nicht wenigstens unser Arbeitsstil bei der Rechtsermittlung und -Anwendung den begehrten Wissenschaftsanspruch?" (S. 752)

Er stellt fest, ,,daß es dem Tatrichter lediglich darum geht, den anhängigen Prozeß, nicht aber implizite auch andere vorstellbare Fallvarianten zu entscheiden. Diesem unentfliehbaren Auftrag zuliebe wird der gewissenhafte Rechtsanwender notgedrungen das juristische Lehrsystem zu opfern bereit sein, wenn dessen Ergebnis sein Rechtsgefühl nicht befriedigt"; und er fährt fort: ,,das ist aber nur ein Kriterium für eine subjektive Wahrheit." (S. 752)

,, ... die Juristen bedienen sich bei der Ermittlung des Sinngehaltes einer umstrittenen Norm der Formen logischen Schließens. Wir benutzen zwar diese Figuren beim juristischen Argumentieren, jedoch nicht ausschließlich nach feststehender Methode, sondern oftmals auch nach deren Nützlichkeit. Gesteuert von dem berufsethischen Verlangen, zu einem lebenstüchtigen Ausgleich sozialer Spannungen zu kommen, greifen wir doch zu dem Denkmodell, das uns zu dem erstrebten Ziele hinführt." (S. 752)

Für HÜLLE lassen sich ,,von Kirchmanns Einwände ... gegenwärtig überwinden" durch einen ,,geistvollen" Aphorismus des Paul Bockelmann, der sagte: ,,Jurist kann nur sein, wer der Einsicht standzuhalten vermag, daß die Rechtswissenschaft so wenig wie die Philosophie und die Theologie lehrt, was Gerechtigkeit letztlich ist." (zit. n. Hülle, S. 752)

Verf. kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß wir im Grunde genommen über die Position von Kirchmanns von 1847 nicht hinaus gekommen sind.

Literatur:

Kirchmann, J. H. v.: Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1847), Heidelberg, 1988

Hülle, W.: J. H. v. Kirchmann und kein Ende. Juristische Schulung, 1984, H. 10, S. 748-752

Institut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Ost) (Hg.): Deutsche Geschichte in Daten. Berlin (Ost), 1969

Larenz, K.: Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin, 1966

Meyer-Tscheppe, H. H. : Biographisches, in: v. Kirchmann, 1988, S. 57-60

Neeße, G. : Einleitung zu ,,Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" von J. H. v. Kirchmann, Stuttgart, 1938

Rottleuthner, H. : Die Formierung der Kieler ,,Stroßtrupp-Fakultät" im Jahre 1933. Skript zur Vorlesung ,,Recht und Nationalsozialismus", WS 1990/91

Stockhorst, E. : Fünftausend Köpfe. Wer war was im Dritten Reich, Velbert & Kettwig, 1967